Ist absolutes Wissen möglich?

20. Mai 2025
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Im Deutschunterricht haben wir die novellistische Studie Bahnwärter Thiel gelesen und dabei den Naturalismus als literarische und erkenntnistheoretische Strömung kennengelernt. Der Naturalismus behauptet, dass der Mensch nicht autonom ist, sondern vollkommen durch äußere Faktoren determiniert wird: Gene, soziales Umfeld, Zeitumstände. In diesem Denken ist kein Platz für freien Willen oder eigenständige Erkenntnis. Was zählt, ist nur das, was messbar, beobachtbar, sinnlich erfahrbar ist. Was sich nicht empirisch erfassen lässt, gilt als bedeutungslos. Diese Haltung wird auch im Positivismus deutlich: Nur das, was sich durch Experimente nachweisen lässt, darf als Wissen gelten. Alles andere wird abgelehnt. Diese radikale Abhängigkeit des Wissens von der sinnlichen Wahrnehmung stellt mehrere Fragen. Ist alles Wissen über die Welt wirklich empirisch? Und wenn ja, kann man sich auf dieses Wissen verlassen? Beobachtungen können falsch sein. Unsere Sinne täuschen uns oft. Wir sehen Muster, wo keine sind. Wir denken oft, dass eine Korrelation eine Kausalität impliziert. Der Mensch wird in diese Welt hineingeboren und versucht, aus den gegebenen Umweltelementen eine Ursache abzuleiten. Doch das empirische Verfahren reicht nicht aus, um diese Ursache zu ermitteln. Der Philosoph David Hume sprach von einem "Induktionsproblem": Nur weil die Sonne bisher jeden Tag aufging, folgt daraus nicht zwingend, dass sie es morgen wieder tun wird. Empirisches Wissen ist immer vorläufig. Es ist nützlich, pragmatisch, aber nicht sicher.

Deshalb haben Denker wie Immanuel Kant versucht, dem Wissen ein sicheres Fundament zu geben. Für Kant gibt es Erkenntnisse, die nicht aus der Erfahrung stammen, sondern aus dem Verstand selbst: sogenannte Urteile a priori. Zum Beispiel: "Jede Wirkung hat eine Ursache". Solche Sätze gelten notwendigerweise, unabhängig von dem, was wir beobachten. Doch auch Kant musste eingestehen: Diese Erkenntnisse sagen nichts Konkretes über die Welt aus, sondern beschreiben nur die Struktur unseres Denkens. Ein Gebiet, in dem dieses a priori Wissen besonders deutlich wird, ist die Mathematik. Ein Gebiet der rein von unseren Verstand und unserer Logik abgeleitet wurde und nicht mit Beobachtungen der Umwelt zu tun haben. Im Unterricht haben wir das Induktionsverfahren kennengelernt: Eine Beweisform, die zeigt, dass eine Aussage für alle natürlichen Zahlen gilt. Ein typisches Beispiel: "3n + 6 ist für jedes n ∈ ℕ durch 3 teilbar." Man zeigt zuerst, dass es für n = 1 stimmt. Dann nimmt man an, es gilt für ein beliebiges n, und beweist, dass es dann auch für n + 1 gilt. Daraus folgt, dass es für alle n gilt. Diese Methode ist elegant und überzeugend, aber auch sie beruht auf grundlegenden Axiomen. Doch auch die Mathematik basiert auf Voraussetzungen, auf sogenannten Axiomen. Das sind Grundbausteine jedes Gebiets in der Mathematik, wie die Geometrie oder der Algebra. "Zwei Punkte bestimmen eine Gerade" oder "a + b = b + a", die nicht bewiesen werden, sondern als selbstverständlich angenommen sind. Gerade weil sie so grundlegend und intuitiv erscheinen, lassen sie sich nicht mehr ableiten. Das bedeutet auch sie könnten theoretisch falsch sein. Diese Axiome erscheinen uns intuitiv, sogar selbstverständlich. Doch so einleuchtend sie auch wirken, sie sind nicht absolut, denn sie sind nicht beweisbar. Wenn wir nach einem Wissen suchen, das unter allen Umständen gilt und unabhängig von unserer Wahrnehmung, dann reicht Intuition nicht. Denn was, wenn wir uns täuschen? Was, wenn wir träumen oder unter Einfluss einer halluzinogenen Substanz stehen? Vielleicht erscheint es uns dann vollkommen logisch, dass 2 + 2 = 5 ist. Woher wissen wir, dass wir im Moment klar denken und dass 2 + 2 tatsächlich 4 ergibt? Woher wissen wir, dass es nicht nur unsere Einbildung ist. Ein Denker, der diese Zweifel radikal weitergedacht hat, war René Descartes. Auch er war auf der Suche nach einem absoluten Fundament des Wissens. Er stellte sich ein Gedankenexperiment vor: Ein „Demon“ – ein böser Geist – könnte ständig auf unserer Schulter sitzen und uns in allem täuschen. Unsere Sinneseindrücke, unsere Logik, sogar unser mathematisches Denken könnten nur Illusionen sein. Doch Descartes erkannte etwas, das sich auch durch den schlimmsten Demon nicht bestreiten lässt. Wir denken, oder besser gesagt, wir zweifeln an allem, was existiert oder nicht existiert. Selbst der mächtigste Dämon kann uns das nicht nehmen. Selbst wenn wir uns irren – wir denken. Selbst wenn wir falsch denken – wir denken trotzdem. Wer denkt, ist etwas Denkendes. Und wer etwas ist, existiert.

"Ich denke, also bin ich."

Doch was bedeutet das nun für unser Streben nach Wissen? Sowohl Kants a priori Erkenntnisse als auch Descartes’ unerschütterliches Cogito bieten zwar eine Art metaphysische Sicherheit – doch sie bleiben abstrakt. Sie sind wie Leuchttürme in einem stürmischen Meer der Zweifel, aber ihr Licht reicht nicht aus, um unseren Alltag zu erhellen. Doch stellt sich die Frage: Ist absolutes Wissen überhaupt nötig? Sicher, wir Menschen suchen stets nach Gründen und logischen Ursachen, doch nur weil etwas nicht absolut beweisbar ist, heißt das nicht, dass es falsch ist. Fast nichts lässt sich zu 100 % verifizieren, und trotzdem wird die Sonne morgen aufgehen. So wenig wie der zu extreme Positivismus überzeugt, so wenig sollten uns die "Unsicherheiten" unseres Wissens in haltlosen Skeptizismus treiben. Die Lösung liegt wie so oft, in der Balance: kritisch denken, wo nötig, aber pragmatisch handeln. Denn Erkenntnis ist selten absolut, und doch unverzichtbar.

Bei diesem Blog ging es mir um die fundamentale Frage: Gibt es überhaupt absolut sicheres Wissen? Dabei wollte ich keine trockene Theoriezusammenfassung schreiben, sondern meinen Denkprozess zeigen. Der Ausgangspunkt war unser Deutschunterricht zu "Bahnwärter Thiel" und dem Naturalismus. Daraus entwickelte ich eine erkenntnistheoretische Spurensuche von Hume über Kant bis Descartes. Besonders lag mir daran, komplexe Gedanken (wie das Induktionsproblem oder Axiome) verständlich zu erklären, ohne sie zu stark zu vereinfachen. Womit ich aber eher unzufrieden bin, ist das 'Spielfeld' des Textes. Es war etwas ambitioniert, so viele komplexe Gedanken, insbesondere die von Descartes und Kant, in einem 800 Wörter umfassenden Text zusammenzufassen. Aber wie schon gesagt, mir war es wichtig, meine gesamten Überlegungsphasen darzustellen.

(Technische Anmerkung: Deepseek half mir bei Formulierungen und als Korrekturhilfe, besonders bei der Präzisierung philosophischer Konzepte.)