Die Macht - Eine Naturgewalt oder eine Erfindung der Menschen?

8. Mai 2025
KI generiert

Im Deutschunterricht haben wir uns mit der literarischen Epoche der Weimarer Republik beschäftigt. Im Zentrum stand Schiller und sein literarisches Werk, Maria Stuart. Die Macht spielt eine wichtige Rolle in all seinen Werke, einerseits weil er seine Jugend in einer Militärakademie verbringe musste, was für ihn eine schwere Zeit war, und anderseits, weil gerade die Französische Revolution stattfand und insbesondere die Epoche des Terrors, die ein Beispiel für Machtmissbrauch darstellt.  In der dramatischen Verarbeitung der historischen Figur Maria Stuarts, steht der Konflikt zwischen Maria und ihrer Schwester Elisabeth im Mittelpunkt. Diese zwei mächtigen Frauen befinden sich in einer von Männern dominierten Umgebung. Die Frage, die sich unter anderem stellt, ist, welche von diesen beiden Frauen am meisten Macht über Männer ausüben kann. Dann später beim Lesen stellt sich dem Leser eine weitere Frage. Was ist Macht überhaupt? Wie ist es möglich, dass eine einzige Frau Tausende oder gar Millionen von Menschen kontrollieren kann? Wie kann Elisabeth ihre Macht über die gesamte Bevölkerung eines Landes ausüben? Ich werde versuchen diese Fragen im Zusammenhang mit dem Werk Schillers und der fiktiven Sprache zu beantworten.

Solche Fälle, in denen ein Individuum Macht über eine sehr große Anzahl von Personen ausübt, finden sich nur bei dem Menschen. Wenn man sich Primaten anschaut, sieht man, dass die größtmögliche Gruppengrösse maximal 150 bis 200 Individuen beträgt. Der Anführer, der Alpha, hat eine physische Überlegenheit gegenüber den anderen Mitglieder seiner Gruppe. Seine Macht ist also rein durch das physische Gewalt definiert. Wir sind aber Menschen, und sind durch unsere Fähigkeit die fiktive Sprache zu nutzen anders als die restlichen Primaten. Die fiktive Sprache ermöglicht es uns, über Dinge zu sprechen. Die nicht unmittelbar präsent sind, etwa über zukünftige oder vergangene Situationen. Sie erlaubt uns sogar, über abstrakte Konzepte und komplexe Vorstellungen zu sprechen. Die Macht ist eines dieser Konzepte. Dann stellt sich aber die Frage: Woher kommt diese Macht eigentlich? Wer bestimmt, wer herrschen darf? Schiller deutet im Drama Maria Stuart an, dass Macht nicht einfach von oben nach unten ausgeübt wird. Sie entsteht zwischen den Menschen, im Raum der Zustimmung, der Fiktion und vor allem: im Namen des Volkes. Das Volk bleibt im Stück selbst zwar amorph und kaum sichtbar, doch ist es ständig präsent. Es ist die unsichtbare Instanz, auf die Elisabeth sich stützt, auch wenn sie nicht offen darüber spricht. Sie zögert direkt Maria hinrichten zu lassen, nicht weil sie Mitleid empfindet, sondern weil sie das Urteil des Volkes fürchtet. Ihre Macht hängt davon ab, wie sie in der öffentlichen Wahrnehmung erscheint. Es ist ein frühes Beispiel dafür, was wir heute als mediale Inszenierung von Macht bezeichnen würden. Auch Rousseau denkt Macht als ein fiktives Konzept, nicht als Naturgegebenheit. In seinem Contrat social beschreibt er, wie Menschen mithilfe ihrer Sprache ein gemeinsames Konstrukt erschaffen: den Staat. Es gibt keine natürliche Herrschaft – nur eine kollektive Übereinkunft, in der sich jeder Einzelne einem Ganzen unterordnet. Aber diese Ordnung existiert nicht materiell – sie ist eine Vorstellung, eine Erzählung, die nur durch Sprache möglich wird. Ohne Sprache keine Idee des Gemeinwillens, keine Gesetze, keine Autorität. Was wir „Staat“ nennen, ist also eine Fiktion, erschaffen und aufrechterhalten durch unsere Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu formen und ihnen zu glauben. Man könnte sagen: Die fiktive Sprache produziert die fiktive Ordnung. Und solange diese Ordnung Sicherheit, Struktur und Zugehörigkeit bietet, sind die Menschen bereit, ihre Freiheit teilweise aufzugeben – und sich einer höheren Instanz zu unterstellen. Diese Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung liefert also Ordnung und Schutz, aber das ist nicht der einzige Grund, warum Menschen sich darauf einlassen.
Für viele ist es auch einfach angenehm, keine Entscheidungen treffen zu müssen. Gerade große Entscheidungen, die mit Verantwortung, Schuld oder Risiko verbunden sind, stellen eine Belastung dar. Selbst Elisabeth, die mächtigste Figur im Stück, zögert, Maria hinrichten zu lassen, nicht weil sie es moralisch nicht verantworten kann, sondern weil sie die Entscheidung nicht allein tragen will. Sie delegiert – wie so viele Menschen in Machtpositionen – die Verantwortung, und genau darin liegt ein tieferer Mechanismus der Macht:
Die Beherrschten unterwerfen sich oft nicht aus Zwang, sondern weil sie die Entscheidung lieber anderen überlassen. Die Macht im großen Maßstab ist also eine unbewusste Erfindung des Menschen, die auf der fiktiven Sprache basiert. Die Macht, die Elisabeth über ihr Volk ausübt, ist somit nichts weiter als eine Fiktion, sie existiert nur in den Köpfen der Menschen. Eine Szene aus Game of Thrones bringt das auf den Punkt – auch wenn sie literarisch vielleicht weniger raffiniert ist als Rousseau oder Schiller. Varys erzählt ein Gleichnis: Ein König, ein Priester und ein reicher Mann bitten einen Söldner, die beiden anderen zu töten. Wer stirbt? Wer lebt? Die Antwort: Es kommt darauf an, wen der Söldner für mächtig hält.
Macht liegt also dort, wo man glaubt, dass sie liegen sollte. Nicht im Schwert, nicht im Gold, nicht im Titel – sondern im Kopf. Die Macht, die ein Monarch über seine Bevölkerung ausübt ist also eine Beziehung, in die Menschen freiwillig und unbewusst eintreten, weil sie allen Nutzen bringt.

Kastentext:

Für diesen Blog hatte ich zunächst überhaupt keine konkrete Idee. Erst als ich zufällig wieder einmal eine Folge Game of Thrones schaute – die Szene mit Varys' berühmter Macht-Rätsel – fiel bei mir der Groschen. Ich fragte mich: Warum folgt der Söldner überhaupt einem Befehl? Und warum glauben wir überhaupt an Macht?

Ich erinnerte mich an Rousseaus Contrat social, den ich schon früher einmal gelesen hatte. Seine Vorstellung, dass die Gesellschaft auf einer freiwilligen Übereinkunft basiert, fand ich immer spannend. Als ich weiter recherchierte, stieß ich auf La Boétie, den ich vorher nicht kannte, aber dessen Gedanke der „freiwilligen Knechtschaft“ mich sofort fasziniert hat.
Parallel dazu erinnerte ich mich an Yuval Noah Harari, der in Sapiens beschreibt, wie große Menschengruppen nur durch fiktive Sprache funktionieren – durch gemeinsam erfundene Geschichten, an die alle glauben: Geld, Staaten, Götter... oder eben Macht.

Ab da wurde klar, wohin mein Text will: Macht ist keine Realität, sondern eine Fiktion – möglich gemacht durch Sprache. Ich habe alle meine Quellen aus dem Gedächtnis oder aus alten Notizen genommen – nichts neu gelesen –, aber das Schreiben hat mir geholfen, vieles neu zu verknüpfen. Auch wenn der Einstieg mir schwerfiel, bin ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden.